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Der Ukraine-Krieg endet entweder am Verhandlungstisch oder er nimmt ein blutiges Ende.

Es ist an der Zeit, den Konflikt einzufrieren und sich auf den langen, mühsamen Weg zu machen, ihn mit diplomatischen Mitteln zu lösen. Eine diplomatische Einigung, um den Krieg in der Ukraine zu beenden, wird nicht einfach sein. Aber es ist nicht unmöglich. Während sich der Krieg in die Länge zieht, ist das Potenzial für Katastrophen und Eskalationen nur noch größer geworden. Der Ukraine-Krieg endet entweder am Verhandlungstisch oder er nimmt ein blutiges Ende.

Von Hans-Georg Ehrhart

Im Oktober 1981 protestierten etwa 300.000 Menschen im Bonner Hofgarten gegen die Stationierung von amerikanischen Pershing-II-Raketen und Marschflugkörpern in Westeuropa. Ihr Widerstand richtete sich gegen den nuklearen Rüstungswettlauf zwischen der NATO wie der Sowjetunion und die damit verbundene Abschreckungslogik. Sie war geeignet, das Risiko einer Vernichtung Europas in Kauf zu nehmen. Gut vier Jahrzehnte danach finden keine Massenproteste gegen die erneut vorherrschende Kriegslogik statt. Die direkt Beteiligten und ihre westlichen Unterstützer auf ukrainischer Seite haben sich wohl wie nukleare Schlafwandler darin eingerichtet, während die Bevölkerung nichts mehr vom Krieg hören will. Dabei ist die nukleare Bedrohung größer denn je, wie das Kernkraftwerk bei Saporischschja zeigt.

So wie die Großmächte 1914 in die sogenannte „Urkatastrophe des Ersten Weltkriegs“ (George F. Kennan) schlafwandelten, so verdrängen, negieren oder unterschätzen die Protagonisten der Konfrontation Westen versus Russland augenblicklich die Möglichkeit einer nuklearen Zuspitzung. Sie mögen nicht die Absicht hegen, thermonuklear zu eskalieren. Insofern scheint das Risiko eher gering zu sein. Andererseits verbeißen sich Russland und die Ukraine immer mehr ineinander, sodass die Verluste an Menschenleben, an Infrastruktur, Umwelt und militärischem Material stetig steigen. Die erklärten Kriegsziele der Konfliktparteien bieten so lange keinen Raum für einen Kompromissfrieden, wie beide auf Sieg setzen. Russland will möglichst große Gebiete im Osten und Süden vereinnahmen und die Ukraine vom Schwarzen Meer verdrängen. Der verbleibende Rumpfstaat würde entweder ein gescheiterter Staat sein oder schwach und neutral, auf keinen Fall aber prädestiniert, Mitglied der NATO zu sein. Die USA wollen Russland so schwächen, dass es als Großmacht für lange Zeit ausfällt. Die Führung in Kiew erklärt, sie beabsichtige, die territoriale Integrität wiederherzustellen, dazu gehöre die annektierte Krim. Maximalziele dieser Art können zur nuklearen Eskalation verleiten. Erstens, wenn Russland den Krieg zu verlieren droht, zweitens, ihn unter günstigen Bedingungen zu gewinnen meint, und, drittens, die USA direkt eingreifen, sei es um einen Sieg der Ukraine zu beschleunigen oder deren Niederlage zu verhindern. Da Kriegsdynamiken unvorhersehbar sind, besteht viertens stets die Möglichkeit einer nicht beabsichtigten Eskalation durch menschliches Versagen.

Moskau hat bereits mehrfach die nukleare Option rhetorisch gestreift. Es hat seine Kernwaffen modernisiert und verfügt über eine breite Palette an taktischen wie strategischen Fähigkeiten. Die neueste, propagandistisch hochgespielte Entwicklung ist eine manövrierfähige Hyperschallwaffe namens „Awangard“, die als Stratosphären-Gleitflugkörper mit mutmaßlich zwanzigfacher Schallgeschwindigkeit nahezu unverwundbar sein soll. Eine Flugzeuggestützte konventionelle Variante davon will Moskau bereits im Krieg eingesetzt haben, um ein unterirdisches Munitionslager zu zerstören. Die USA und China verfolgen ähnliche Projekte. Peking hat seine strategischen Nuklearsprengköpfe von 200 auf 350 aufgestockt und wird bis 2030 über 1.000 Sprengköpfe verfügen. Die USA, die nach Russland (6.000) über die zweitmeisten Sprengköpfe verfügen (5.500), räsonieren über eine neue Abschreckungsstrategie, die es mit zwei potenziellen, unterschiedlich ausgerüsteten Gegnern gleichzeitig aufnehmen kann.

Der Trend geht zu Mini-Nukes Besonders beunruhigend ist der Trend zu „Mini-Nukes“, auch Low-Yield-Wa!en genannt. Deren geringere Sprengkraft schafft neue militärische Optionen. So verfügt etwa der amerikanische B61-12-Sprengkopf, der auch in Deutschland gelagert wird, über vier Stufen mit 0,3; 1,5; 10 und 50 Kilotonnen. Zur Erinnerung: Die über Hiroshima abgeworfene Atombombe, der 136.000 Menschen zum Opfer fielen, hatte eine Stärke von 13 Kilotonnen TNT. Wie viele Mini-Nukes Russland besitzt, ist nicht bekannt. Angenommen wird, dass seine Streitkräfte über das mit Abstand größte Arsenal taktischer Atomwaffen verfügen – etwa 2.000. Deren Strategie sieht einen Einsatz im Fall eines konventionellen Angriffs auf das eigene Territorium vor, wenn „der die Existenz des Staates bedroht“. Man kann davon ausgehen, annektiertes ukrainisches Gebiet wie die Krim steht auch unter dem Schutz russischer Kernwaffen.

Der Westen ist zwar konventionell überlegen und könnte die Ukraine vielleicht noch lange mit Waffen beliefern, doch nuklear ist er verwundbarer als Russland. Das liegt weniger daran, dass Moskau über mehr taktische Atomwaffen verfügt, sondern daran, dass ein russischer Atomschlag gegen die Ukraine oder einen nicht-atomaren europäischen NATO-Staat von den USA nicht mit einem atomaren Gegenschlag auf russisches Territorium beantwortet werden könnte – es sei denn um das Risiko eines Gegenschlags auf US-Gebiet. Etwas, das Washington tunlichst vermeiden sollte. Da die USA aber – nicht zuletzt mit Blick auf China – ziemlich sicher kein Zauderer oder Verlierer sein wollen, würden sie wohl reagieren. Damit sie keinen Schaden nehmen, soll man Schlafwandler nicht aufwecken. Im Moment allerdings ist das zu ignorieren: Die politischen Schlafwandler in Moskau, Washington, Berlin, Brüssel und anderswo sollten aufgerüttelt werden, um zu verhindern, dass Menschen in ganz Europa in eine nicht mehr steuerbare Gefahr geraten. Deshalb muss die Zivilgesellschaft wie in den 1980ern in Deutschland und in anderen Ländern auf die Straße gehen. Wie damals sollten sich unterschiedliche soziale Bewegungen zusammenfinden. (Text Von Hans-Georg Ehrhart endet hier).

Zeichen der Hoffnung auf ein baldiges Kriegsende?

Es gibt jedoch ermutigende Zeichen und es gibt tatsächlich Grund für Optimismus. Zunächst einmal wurden in den vergangenen Monaten wichtige Fortschritte beim diplomatischen Engagement erzielt. Im Juli unterzeichneten Russland und die Ukraine ein von der Türkei und den Vereinten Nationen vermitteltes Abkommen, wonach Exportschiffe, die Getreide und andere Agrarexporte aus ukrainischen Häfen befördern, unbehelligt durch das minenverseuchte Schwarze Meer geleitet werden können. Das Abkommen hat eine Nahrungsmittelkrise zumindest abgemildert. Bis zum 23. August haben 33 Frachtschiffe mit fast 720.000 Tonnen Nahrungsmitteln die Ukraine im Rahmen des Abkommens verlassen. Die ukrainischen Minen konnten die Transporte nicht stoppen.

Gleichzeitig besteht die Möglichkeit einer diplomatischen Eröffnung zwischen den USA und Russland in den laufenden Gesprächen über ein Gefangenenaustausch. Verhandlungen über den Tausch führten Ende Juli zu ersten Gesprächen zwischen Lawrow und US-Außenminister Tony Blinken. Sie einigten sich darauf, die Verhandlungen fortzusetzen. Es ist ein positiver Schritt, dass die Verhandlungen auf hoher Ebene stattgefunden haben.

Die Beteiligung der USA an künftigen Verhandlungen ist eine Voraussetzung für deren Erfolg.

Dies ist von entscheidender Bedeutung, da die Beteiligung der USA an künftigen Verhandlungen aus mehreren Gründen eine Voraussetzung für deren Erfolg ist. Einer davon ist, dass die Vereinigten Staaten durch ihre Unterstützung der ukrainischen Kriegsanstrengungen, einschließlich nachrichtendienstlicher Hilfe bei der Bekämpfung russischer Generäle und Kriegsschiffe, de facto an dem Konflikt beteiligt sind, wobei sogar einige US-Beamte zugeben, dass Washington in einen „Stellvertreterkrieg“ verwickelt ist. Ziel sei es, „Russland geschwächt zu sehen “. Darüber hinaus gibt es bestimmte Dinge, die nur die Vereinigten Staaten in Gesprächen anbieten können, von Sanktionserleichterungen für Russland bis hin zu Sicherheitsgarantien für eine neutrale Ukraine.

„Die Russen glauben, dass die USA das Sagen haben“, sagte der altgediente US-Diplomat Chas Freeman bereits im Mai. „Daher ist es unwahrscheinlich, dass Gespräche mit denen, die sich von den USA leiten lassen, etwas Nützliches ergeben.“ Damit ist dann wohl die Europäische Union gemeint.

Russische Beamte selbst haben ihren Glauben an die Schlüsselrolle Washingtons zum Ausdruck gebracht. Der Februar-Invasion ging eine Ouvertüre voraus, die Moskau der Biden-Regierung unterbreitete und die sich auf die Begrenzung der NATO-Erweiterung konzentrierte, die das Weiße Haus ablehnte. Der Beamte des Außenministeriums, Derek Chollet, gab zu, dass die Regierung sich geweigert hatte, das Thema vor dem Krieg auf den Tisch zu legen, und in einem kürzlich erschienenen Bericht der Washington Post, basierend auf offiziellen US-Berichten ergab, dass russische Beamte vor dem Krieg mindestens viermal ihre Invasionsdrohung mit der Erweiterung der NATO in Verbindung brachten. In einem Fall sagte Putin Biden rundheraus, dass „die Osterweiterung des westlichen Bündnisses ein wichtiger Faktor bei seiner Entscheidung war, Truppen an die ukrainische Grenze zu schicken“, heißt es in dem Bericht.

Letzten Monat argumentierte Rajan Menon, Direktor des großen Strategieprogramms bei Defense Priorities, dass „es nicht den geringsten Beweis dafür gibt, dass Moskau und Kiew bereit sind, auch nur Vorverhandlungen mit dem Ziel der Beendigung des Krieges aufzunehmen, geschweige denn einem Waffenstillstand zustimmen.“ Jede Seite sei überzeugt, dass sie den Krieg gewinnen werde, schreibt er, also werde der Krieg weitergehen, „bis mindestens eine Seite zu dem Schluss kommt, dass sich der Kampf als fruchtlos, vielleicht sogar katastrophal erweisen wird“.