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„Wie ich als Moslem zum Antisemiten erzogen wurde“

von Abdel-Hakim Ourghi 12.06.2021

Nach den judenfeindlichen Ausschreitungen in Deutschland ist oft von importiertem Antisemitismus die Rede. Zu Recht, wie ich als in Algerien sozialisierter Muslim weiss.

Wer sich schreibend oder erzählend an etwas erinnert, möchte, dass seine Erinnerungen mit anderen geteilt und festgehalten werden. An dieser Stelle möchte ich über meine eigene Geschichte mit dem Antisemitismus schreiben. Meine Erfahrung möchte ich schriftlich festhalten, denn sie soll nicht ins Vergessen übergehen.

Mit dreiundzwanzig Jahren kam ich 1992 als indoktrinierter Antisemit nach Deutschland. Ich kann mir heute vorstellen, dass viele Musliminnen und Muslime, die in den westlichen Ländern leben, nicht anders erzogen wurden als ich. Unsere Sozialisation in unseren Herkunftsländern wollte uns in den Zustand des unsterblichen Hasses gegen die Juden versetzen. Ich hasste Juden und den Staat Israel, und alles, was damit zu tun hatte, habe ich vehement abgelehnt.

Ignorierte Warnungen

Nur ein Grundsatz galt für mich: Die Juden sind die Täter, und die Muslime sind die Opfer. Schuld an der Misere der Muslime in der ganzen Welt, so dachte ich, tragen die Juden. Und somit werden die Juden zum Inbegriff des Anderen, zum ewigen Feind, der die Muslime bedroht. Die Juden als Täter und wir Muslime als Opfer: Diese Dualität bestimmt heute, mehr denn je, das Denken und Handeln vieler Muslime, sowohl in muslimischen Ländern als auch im Westen.

«Ich verneige mich vor Hitler»Hier weiterlesen.

Abdel-Hakim Ourghi ist Islamwissenschafter und vertritt einen liberal-aufgeklärten Islam. Voraussichtlich im Dezember erscheint sein neues Buch, «Die Juden im Koran. Eine historische Tragödie mit fatalen Folgen». Aus der Neuen Züricher Zeitung.